Schätzungsfälle und deren Verteidigung

Die Verteidigung in sog. Schätzungsfällen ist geprägt durch die Koexistenz zweier Verfahrensarten, dem Besteuerungsverfahren sowie dem Steuerstrafrechtsverfahren. Beide Verfahrensarten verfolgen unterschiedliche Ziele und sind geprägt durch unterschiedliche Grundsätze. So gilt im Steuerstrafverfahren zugunsten eines jeden Steuerbürgers der Grundsatz „in dubio pro reo“. Demgegenüber ist das Steuerrecht geprägt von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sowie einem möglichst hohen Steueraufkommen. Die unterschiedlichen Zielsetzungen beider Verfahrensarten zeigen gleichzeitig einen Konflikt auf, in dem der Steuerbürger einerseits im Besteuerungsverfahren grundsätzlich weiterhin zur Mitwirkung verpflichtet wird, er aber andererseits nach dem strafrechtlichen Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ nicht selbst an seiner eigenen Überführung mitwirken muß . Eine Auflösung dieses Konflikts lässt sich für den Betroffenen nur schwer aufgrund des Gesetzes lösen.
Nach § 393 Abs. 1 Satz 1 AO richten sich die Rechte und Pflichten des Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde in Besteuerungsverfahren und in Strafverfahren nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften. § 393 Abs. 1 Satz 2 AO regelt weiter, dass in Besteuerungsverfahren jedoch Zwangsmittel nach § 328 AO gegen den Steuerpflichtigen unzulässig sind, wenn er dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. In § 393 Abs. 1 Satz 3 AO heißt es, dass dies stets gilt, soweit gegen ihn wegen einer solchen Tat  das Strafverfahren eingeleitet worden ist. Der Steuerpflichtige ist hierüber zu belehren, soweit dazu Anlass besteht.

Diese beiden Verfahrensprinzipien, einerseits zur Mitwirkung verpflichtet zu sein, andererseits sich auf den Strafrechtsgrundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare „ sowie auf „in dubio pro reo“ berufen zu können, führt gerade in Schätzungsfallen zu Problemen. Häufig werden hier die Rechtsgrundlagen in der jeweiligen Verfahrensart durch Finanzbehörden und Gerichte (Finanzgerichte und Strafgerichte) nicht ausreichend beachtet, woraus sich Rechtsfolgen zu Lasten des Beschuldigten einerseits und des Steuerpflichtigen andererseits ergeben.

So hat der Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung vom 24.05.2007 (BGH Az.  5 StR 58/07) nochmals die Voraussetzungen für derartige Schätzungsmöglichkeiten im Steuerstrafverfahren dargelegt und klargemacht, dass auch Schätzungen im Steuerstrafverfahren allein dem Tatrichter obliegen. Hintergrund dieses Falles war, dass ein Angeklagter die Umsätze eines asiatischen Schnellrestaurants nicht in seiner Buchhaltung erfasst und so umfängliche Steuerverkürzungen eingetreten sind. Auch Geschäftsunterlagen konnten durch die Steuerfahndung nicht beschlagnahmt werden. Zwar hat der Angeklagte in diesem Fall seine Steuerhinterziehung dem Grunde nach eingestanden, er hatte jedoch gegen die von der Steuerfahndung im Rahmen der Gewinnermittlung verwendeten Rohgewinnaufschlagsätze Einwendungen erhoben. Das Landgericht hat daraufhin die Höhe der Betriebseinnahmen durch Schätzung ermittelt und einen Rohgewinnaufschlag von 350 % sowie einen Reingewinnsatz 32 % bzw. 33 % angesetzt. Der Bundesgerichtshof hat diese Verurteilung aufgehoben, weil die in diesem Fall strafschärfenden Feststellungen zum Umfang der verkürzten Steuern nicht auf eine tragfähige Beweiswürdigung zurückzuführen seien.

Der BGH hat insbesondere hervorgehoben, dass im Steuerstrafverfahren Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber demgegenüber ungewiss ist. Zur Durchführung der Schätzung kommen die im Besteuerungsverfahren anerkannten und erforderlichenfalls kombiniert anzuwendenden Schätzungsmethoden in Betracht.

Zulässig nach BGH-Auffassung ist auch die Heranziehung der Richtsatzsammlung des BMF. Vom Grunde her darf die Schätzung aber allein nur dem Tatrichter obliegen. Er darf Schätzungen der Finanzbehörden nur übernehmen, wenn er von ihrer Richtigkeit unter Berücksichtigung der vom Besteuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (vgl. § 261 StPO) überzeugt ist. Der Tatrichter hat aber in jedem Fall in seinen Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen, wie er zu den Schätzungsergebnissen gelangt ist. Die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs zeigt, dass auch der Tatrichter sich selbst mit den Schätzungsgrundlagen im Strafverfahren auseinander zu setzen hat und nicht ungeprüft die Schätzung im Besteuerungsverfahren durch die Finanzbehörde übernehmen darf.

Dies führt aber immer wieder zu untragbaren Ergebnissen im Strafverfahren. Wichtig für das Strafverfahren ist, dass allein solche Tatsachen entscheidungsrelevant sind, die ohne Zweifel erwiesen sind, die sich also auf Sachverhalte stützen können, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verwirklicht wurden. Hier sind Wahrscheinlichkeitsüberlegungen des Strafrichters demnach fehl am Platze. Hierbei hat insbesondere die Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen Feststellung der strafrechtlichen Verfehlungen Beachtung zu finden. Soweit die strafrechtliche Tatbestandsmäßigkeit nicht mit der hinreichenden Sicherheit, also dem Ausschluss jeglichen vernünftigen Zweifels, aufgeklärt wird,  ist der Betroffene im Strafverfahren von dem ihm gemachten Tatvorwurf freizusprechen.

Hier bieten insbesondere auch im Rahmen des Strafverfahrens die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen und die darin ersichtlichen Fehler Verteidigungsansätze. Diese sollten möglichst bereits im Besteuerungsverfahren gerügt werden. Hier sind auch Verstöße gegen Vorschriften des formellen Besteuerungsrechts im Besteuerungsverfahren aufzuzeigen und auch im Strafverfahren zu rügen. Eine weitere Verteidigungsmöglichkeit besteht grundsätzlich darin, zunächst die Finanzbehörde darauf hinzuweisen, den Sachverhalt vollständig aufzuklären, und nicht demgegenüber die für sie bequemere Form einer Steuerschätzung vorzunehmen. Auf die bestehenden Amtsaufklärungspflichten und auf die immer wieder anzutreffenden Strafschätzungen wird sich der Verteidiger berufen können.

Faktisch gesehen ist jedoch der „Strafschätzungszuschlag“ häufig als Umgehung des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO anzutreffen, um den Steuerpflichtigen doch noch trotz Verbots zum Einsatz von Zwangsmitteln zur Mitwirkung anzuhalten und „aus der Reserve zu locken“ . Derartige Strafschätzungen sind unzulässig und stellen eine willkürliche Maßnahme gegen jeden Steuerpflichtigen dar und sind deshalb angreifbar.

Auch an die Ordnungsmäßigkeit folgender Schätzungsmethoden ist ein strenger Maßstab zu setzen:

  1. Geldverkehrsrechnung und Vermögenszuwachsrechnungen
  2. Externer Betriebsvergleich-Richtsatzvergleich
  3. Interner Betriebsvergleich
  4. Nachkalkulation

Bei der Auswahl der Schätzungsmethode hat die Finanzbehörde grundsätzlich einen großen Spielraum, der jedoch im Einzelfall durch die Besonderheiten des Steuerpflichtigen zu überprüfen ist.

Bei allen Steuerschätzungen im Steuerstrafverfahren hat der BGH eine eindeutige Linie vorgegeben. Wenn es auch noch so bequem ist für die Strafgerichte, die geschätzten Besteuerungsgrundlagen von der Finanzbehörde im Strafverfahren zu verwerten, so ist dieser Praxis ein deutlicher Riegel vorzuschieben. Daneben bestehen vielfältige Einwendungen gegen die Schätzung im Steuerstrafverfahren.