Steuerhinterziehung großen Ausmaßes – Rechtssicherheit und Überkriminalisierung

Mit Urteil vom 27. Oktober 2015 hat der 1. Strafsenat des BGH (1 StR 373/15) darauf erkannt, dass ein großes Ausmaß im Sinne von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO bei jeder Steuerhinterziehung über 50.000,00 EUR vorliegt.

Dies hat neben der Auswirkung auf das Strafmaß erhebliche Konsequenzen für die auch im Rahmen von Selbstanzeigen relevante Verfolgungsverjährung von nunmehr 10 Jahren, da eine Selbstanzeige alle unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart zu umfassen hat.

Die gegen die durch das Landgericht Mannheim getroffene Annahme eines „besonders schweren Falls“ im Sinne von § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO gerichtete Revision des Angeklagten, der zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden war, verwarf der 1. Strafsenat als unbegründet.

In dem entschiedenen Fall war der Angeklagte in den Jahren 2000 bis 2004 in der Pizzeria seines Onkels angestellt, die dieser als Einzelunternehmer betrieb. Um gegenüber der Finanzverwaltung niedrige Umsätze bzw. Gewinne zu dokumentieren, ließ der Onkel durch den Angeklagten oder einen seiner anderen Angestellten einen Teil seiner Umsätze in den Registrierkassen vor Ausdruck des Bons löschen. Darüber hinaus rechnete er mit dem Lieferanten Teile seines Einkaufs bar ab, über den anderen Teil ließ er Rechnungen ausfertigen, die für die Buchhaltungsunterlagen bestimmt waren und gab für einzelne Veranlagungszeiträume zwischen 2000 und 2004 falsche Steuererklärungen ab. Nachdem die Taten aufgedeckt waren, übernahm der Angeklagte die Pizzeria als Betriebsinhaber. Das System der Steuerhinterziehung setzte er aber jedenfalls für die Veranlagungszeiträume 2006 und 2007 fort.

Die Strafkammer hat für den Veranlagungszeitraum 2007 einen besonders schweren Fall nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO unter „Halbierung“ der bisherigen Betragsgrenze von 100.000,00 EUR (Grundsatzurteil BGHSt 53, 71, 84ff.) für wegen unvollständiger Steuererklärung (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) gefährdeten Steueranspruchs angenommen.

Die Schwelle zur Hinterziehung „in großem Ausmaß“ sei bereits dann überschritten, wenn der Steuerpflichtige dem Finanzamt steuerlich erhebliche Tatsachen verschweigt und den Steueranspruch damit in einer Höhe von mehr als 50.000,00 Euro gefährdet. Indem der 1. Strafsenat die Entscheidung „gehalten“ hat, hat er seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben.

Im Wesentlichen führt der Senat hierzu zwei Gründe an:

Zum einen sei die Differenzierung zwischen Schaden und Gefährdungsschaden – so wie beim Betrug im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB – nicht gerechtfertigt, wenn der Betrug tatbestandlich einen Schaden voraussetzt, der auch Gefährdungsschaden sein kann, für die Steuerhinterziehung aber § 370 Abs. 4 Satz 1 AO für eine Steuerverkürzung lediglich eine nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig erfolgte Steuerfestsetzung, nicht aber den Eintritt eines Vermögensverlustes beim Fiskus fordert. Die Verdoppelung des Schwellenwerts bei dem sog. Gefährdungsschaden sei daher nicht zu begründen, wenn die Gefährdung des Steueranspruchs dem beim Fiskus eingetretenen Schaden bei der Tatbestandserfüllung qualitativ gleichsteht.

Zum anderen gewährleiste eine einheitliche Wertgrenze von 50.000,00 EUR mehr Rechtssicherheit, weil sich die Differenzierung zwischen nicht erklärten Steuererhöhungsbeträgen und zu Unrecht geltend gemachten Steuerminde- rungsbeträgen und die auf Elemente des Erfolgsunrechts (Höhe des Steuerschadens) und auf Elemente des Handlungsunrechts (unterschiedlicher Gehalt des Handlungsunrechts) gestützte und deshalb schwierige Abgrenzung erübrige, in welchen Fällen der niedrigere und in welchen Fällen der höhere Grenzwert gilt – mit anderen Worten: Eine einheitliche Wertgrenze ist leichter handhabbar. Für den Tatrichter verbleibe auch bei einer einheitlichen Wertgrenze von 50.000,00 EUR im Rahmen der Strafzumessung ausreichend Spielraum, um den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen.

Die Entscheidung erhöht unbestreitbar die Rechtssicherheit. Dass die gegenüber einem Betrugsschaden niedrigeren tatbestandlichen Anforderungen an einen Hinterziehungsschaden aber die Herabsetzung der Wertgrenze rechtfertigen, erscheint konstruiert. Denn wenn § 370 AO bereits tatbestandlich den Gefährdungsschaden erfasst, hätte der weiter gefasste Tatbestand auch ohne Weiteres eine restriktivere Auslegung des „großen Ausmaßes“ begründet. Daher reiht sich das Urteil nach Jahrzehnten einer Wahrnehmung von Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikt in dessen im Vergleich zu anderen Deliktsbereichen fortschreitende Überkriminalisierung ein.